Norwegen. Der Globus leuchtet hell orange im abgedunkelten Zimmer. Laras Zeigefinger landet zielsicher auf dem skandinavischen Staat. Ihrem Traumziel. „In der Kälte habe ich weniger Schmerzen“, sagt sie. Weniger Krämpfe. Weniger Spasmen.
Kühle Luft zieht durch das geöffnete Fenster. Es ist kalt draußen. „Endlich“, sagt Lara Heckele. Sie trägt ein T-Shirt. Kein Frösteln. Trotzdem lenkt sie ihren Rollstuhl zum Fenster, schließt es. Heute klappt das gut. Heute braucht sie dabei keine Hilfe. „Wir können keine Wärme ab“.
MS-Diagnose reißt die 21-Jährige aus Karlsbad aus ihrem Leben
Mit „wir“ meint Lara sich selbst und andere MS-Erkrankte. Vor neun Monaten hat die 21-Jährige die Diagnose Multiple Sklerose erhalten. Diese hat Lara aus ihrem Leben gerissen und in ein völlig anderes hineinkatapultiert. In eine Wohngruppe im „Haus der Jungen Pflege“ in Kuppenheim.
„Mit 21 im Pflegeheim – klingt abgestempelt“, sagt Lara und stabilisiert ihr zitterndes linkes Bein. Eine Spastik. „Geht gleich wieder vorbei“. Ihr Umfeld hatte es ihr madig gemacht, ins Pflegeheim zu gehen. „Ich hatte auch Angst davor – ich hatte es mir anders vorgestellt“.
Ich hatte ein Bild im Kopf von alten Menschen und strengen Regeln.
Lara Heckele
lebt im Haus der Jungen Pflege.
Lara hatte nicht daran geglaubt, auf eine petrolfarbene Wand in einem modernen, großen Zimmer zu blicken, vor der Grünpflanzen so hübsch wirken. Sie hatte nicht daran geglaubt, hier ihrem Hobby, dem Fotografieren, selbstbestimmt nachgehen zu können. Sie hatte nicht daran geglaubt, über Nacht auch mal wegbleiben zu können oder Besuch zu empfangen, ohne sich an strikte Zeiten halten zu müssen. „Ich hatte ein Bild im Kopf von alten Menschen und strengen Regeln“, sagt die junge Frau aus Karlsbad-Ittersbach.
Laras Leben unter Schicksalsgenossen
Im „Haus der Jungen Pflege“ haben sich diese Befürchtungen nicht bestätigt. Lara kann sich dort frei bewegen, soweit es ihr im Rollstuhl möglich ist. Seit 25. Juli lebt sie in Kuppenheim unter Schicksalsgenossen – in einer Wohngruppe mit anderen Menschen, die körperlich und oder geistig beeinträchtigt sind. „Ich merke hier gar nicht, dass ich eingeschränkt bin“, sagt Lara und zieht einen Schluck Wasser durch einen Strohhalm. Dieser steckt immer schon im Glas. Eigentlich nichts Besonderes, aber für sie eine große Entlastung.
Es sind Kleinigkeiten im Alltag, die sie seit ihrer Diagnose manchmal „rasend gemacht haben“: Nicht mehr den Vorhang zuziehen zu können, nicht mehr ohne Strohhalm aus einem Glas trinken zu können, nicht mehr einen Gegenstand von irgendwo zu holen oder zu greifen. Es gibt Tage, da gelingt ihr das besser, an anderen gar nicht. Heute ist ein guter Tag. „Seit drei, vier Wochen bin ich stabil und richtig stolz auf mich“, sagt Lara, „ich kann hier wieder etwas zur Ruhe kommen“. Ihre Stimme ist ruhig, fast leise, ihr Lächeln ein wenig schüchtern.
Täglich lag ich auf dem Boden, weil ich den Weg allein laufen wollte, vom Bett zum Rollstuhl.
Lara Heckele
über ihre ersten Tage im Rollstuhl.
2023 sollte eigentlich Laras großes Jahr werden: Anfang Januar bezog sie in Heidelberg ihre erste eigene Wohnung. Ein kleines Appartement, dass sie sich gemütlich eingerichtet hatte. Im selben Monat begann sie ihre Ausbildung zur Ergotherapeutin: „Ich wollte nie etwas anderes machen.“ Im Februar bestand sie ihre Führerscheinprüfung: „Endlich noch mehr Unabhängigkeit! Damals konnte ich noch laufen“, sagt sie und deutet auf das Foto im Zimmer, an dem man gar nicht vorbeisehen kann. Es zeigt eine lachende Lara beim Spaziergang mit ihrer Mischlingshündin Kira.
Lara vermisst ihre treueste Gefährtin
Kira lebt nun bei Laras Mutter. Ein Pflegeheim ist kein passendes Zuhause für einen Hund. Und Lara kann nicht mehr mit ihr laufen gehen wie früher. Lara kann überhaupt nicht mehr laufen – auch das schmerzt sie beim Anblick des Motivs, neben der Sehnsucht nach ihrer Gefährtin: „Kira fehlt mir sehr.“
Innerhalb der ersten drei Monate dieses Jahres drehte sich Laras Leben komplett auf links. Erste Auffälligkeiten, wie Entzündungsherde im Gehirn, gab es bereits drei Jahre zuvor, aber noch keine Diagnose. „Ich habe das wieder verdrängt. Mein Leben weitergelebt, wie ein normaler Teenager, weil es mir ganz gut ging“, sagt Lara.
Verdrängen ließ sich ab Februar dann nichts mehr. Konzentrationsprobleme machten es der jungen Auszubildenden plötzlich schwer, dem Unterricht zu folgen. Brennende Schmerzen in der Leiste und in den Beinen traten immer wieder auf. Manchmal war ihr so schwindelig, dass sie beim Laufen schwankte. „In meiner Klasse dachten einige, ich wäre besoffen“, sagt Lara und kichert leise. Es war der erste heftige MS-Schub.
Im März begann Laras Ärztemarathon
Am 8. März ging plötzlich alles sehr schnell: „Die Nervenschmerzen waren so stark, dass ich mich in der Schule hinlegen musste“, erinnert sich Lara. Es war ihr unangenehm. Drei Stunden lang hat sie sich dagegen gewehrt, dass der Rettungswagen gerufen wird. Um 12 Uhr wurde sie mit Blaulicht in die Kopfklinik in Heidelberg transportiert. Der Beginn eines Ärztemarathons.
Erst absolvierte sie diesen noch mit Gehhilfen, dann ging gar nichts mehr. Ihre Beine konnten sie nicht mehr tragen. Lara musste in den Rollstuhl. „Ich wollte das nicht wahrhaben“, sagt sie und schüttelt ihren Kopf, „täglich lag ich auf dem Boden, weil ich den Weg allein laufen wollte, vom Bett zum Rollstuhl.“
Auf „Eichhörnchen-Missionen“ mit dem Elektrorolli
Mittlerweile besitzt Lara noch einen Elektrorolli. „Der ist perfekt für meine Eichhörnchen-Missionen“. So nennt die junge Hobbyfotografin ihre Ausflüge zum Schloss Favorite in Rastatt. Dort wartet sie geduldig und fixiert die Äste und Stämme der umliegenden Bäume, bis sie einen kleinen rotbraunen Nager entdeckt. Naturfotografien von Regentropfen auf Herbstlaub, Schmetterlingen oder Libellen, deren Flügel so zerbrechlich wirken wie Glas – Laras neue Leidenschaft. Und wenn die Greifkraft mal wieder streikt, so wie in letzter Zeit, und sie die Kamera nicht mehr halten kann, wird sie zwar auch „mal bockig“, wie sie sagt. Aber dann widmet sie sich eben der Bearbeitung ihrer Fotografien. Wie denen von einem ihrer letzten gemeinsamen Spaziergänge mit ihrer Hündin.
Wir Jungen haben andere Bedürfnisse, Fragen und Sorgen.
Lara Heckele
21-Jährige aus Karlsbad-Ittersbach
Auch die Pflegeeinrichtung hat möglicher Langeweile einiges entgegenzusetzen: dienstags ist Kreativnachmittag, mittwochs wird gemeinsam gespielt, donnerstags ein bisschen Gymnastik gemacht. „Sofern das eben möglich ist“, sagt Lara, als sie den Flur zum Gemeinschaftsraum ihrer Wohngruppe entlangrollt.
In Kuppenheim bietet das „Haus der Jungen Pflege“ Platz für 73 Bewohner zwischen 18 und 65 Jahren, die in fünf Wohngruppen mit jeweils 15 Personen aufgeteilt werden können. „Der größte Anteil der Bewohner hat Multiple Sklerose und wurde bereits eine Zeit lang im eigenen Zuhause gepflegt“, sagt Stephanie Hirth, die Kaufmännische Leiterin der Kuppenheimer Einrichtung des Klinikums Mittelbaden.
Lara ist derzeit die Jüngste im Kuppenheimer Pflegeheim
Lara ist derzeit die Jüngste. Ab und zu verbringt sie ihre Zeit mit Melissa. Die 28-Jährige, die nur Melli genannt werden möchte, lag nach einem schweren Autounfall vor sieben Jahren mit einem Schädelhirntrauma im Wachkoma. Nach vier Jahren Krankenhaus übernahmen die Eltern in Sinzheim die Pflege ihrer Tochter. Seit Juni lebt sie in der Wohngruppe 3 in Kuppenheim. Lara und Melli sind zwar nicht rund um die Uhr zusammen, aber sie tun sich gut. Auch wenn sie Laras enge und langjährige Freundschaften, die bis heute Bestand haben, nicht ersetzten kann, so ist die Zeit mit Melli und den anderen Bewohnern für Lara wichtig: „Klar wären noch ein paar mehr junge Leute, mit denen man was unternehmen könnte, toll. Aber es gibt einige hier, die fit im Kopf sind und mit denen man gut reden kann.“
In einem klassischen Pflegeheim zu sein, kann sich Lara nicht vorstellen. Ob sie sich unter mehrheitlich alten Leuten, die ihren Lebensabend in einer Pflegeeinrichtung verbringen, hätte zu Hause fühlen können? „Nein“, sagt Lara, „wir Jungen haben andere Bedürfnisse, Fragen und Sorgen.“ Momentan fühlt sie sich gesehen, verstanden und wohl. Ist es wie ein zweites Zuhause? „Nein. Es ist mein einziges Zuhause.“
Daran, wieder laufen zu können, kann Lara derzeit nicht denken
Nach der Diagnose bei ihrer Mutter oder ihrem Vater zu wohnen – die Eltern leben getrennt – kam für Lara nicht infrage. „Wie hätte ich mich in einem Fachwerkhaus fortbewegen sollen?“, fragt sie und winkt ab. „Das ist schon gut so. Überall wären Hindernisse gewesen und hätten mir nur vor Augen geführt, wie anders ich plötzlich bin.“
Für Lara ist ihre Wohngruppe ein Ort zum Auftanken, um sacken zu lassen, was in diesem Jahr alles geschehen ist. Welche Träume geplatzt sind. Welche Ziele gestorben. Aber auch, um neuen Mut zu fassen. Neu zu träumen. Neue Ziele zu finden.
„Kleine Ziele“, sagt Lara. An so große, wie wieder laufen zu können, kann sie gerade nicht denken. „Dazu fehlt mir noch die Kraft.“ Keine Pflegerinnen, die 24-Stunden abrufbar sind, mehr zu brauchen, das wäre ein großer Wunsch.
Lara träumt von einer eigenen Wohnung
Wo sieht sich Lara in zehn Jahren? „Realistisch oder ist träumen erlaubt?“, fragt sie, schließt die Augen und legt ihren Kopf in den Nacken: „Im besten Fall lebe ich in einer eigenen Wohnung und arbeite als Ergotherapeutin, die auch Tiertherapien anbietet. Nebenberuflich fotografiere ich auf Hochzeiten, Veranstaltungen oder bei Shootings in der Natur.“ Dann holt sie sich selbst zurück in die Realität. „Aber das macht alles wenig Sinn. Ich brauche eher eine Ergotherapie, als dass ich sie gebe.“ Einen Traum aber gesteht sie sich zu. Dieser kann auch mit Rollstuhl Wirklichkeit werden: Eine Reise nach Norwegen.
Author: Tyler Simmons
Last Updated: 1703616242
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