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Die Renaissance-Menschen kritisierten die Löwenmäuler von Venedig


Stellt euch eine Zeit vor, in der Bürger ihre Bedenken anonym äußern können, indem sie handschriftliche Notizen in dafür vorgesehene Kästen einwerfen. Im Gegenzug behandelt die Regierung jede Beschwerde individuell. Keine Notwendigkeit für Massenproteste oder Demonstrationen. Willkommen im Venedig der Renaissance.

Diese Kästen wurden als bocche di leone („Löwenmäuler“) bezeichnet und waren in der ganzen Stadt zu finden, vom Dogenpalast bis zum Stadtteil Dorsoduro. Jeder Steinkasten glich einem kunstvoll gemeißelten Gesicht, oft dem eines Löwen – der geflügelte Markuslöwe ist das Symbol von Venedig. Über einen Schlitz am Maul konnten Zettel hineingeworfen werden. Das älteste Löwenmaul, das den Dogenpalast schmückt, stammt aus dem Jahr 1618 und ist noch heute intakt.

Aufgrund der vielen Tribunalstellen rund um den Palast hatte jede staatliche Abteilung ihren eigenen Kasten. Stadtweit waren verschiedene Löwenmäuler verschiedenen Themen gewidmet – je nach ihrem Standort. Das Konzept war auf das damalige Regierungssystem ausgelegt, eine oligarchische Republik, die vom Dogen geführt wurde und lokal als La Serenissima („die allerdurchlauchteste Republik Venedig“) bekannt war.

Der in die Wand der Kirche Santa Maria della Visitazione in Dorsoduro eingelassene Kasten diente beispielsweise für Beschwerden über Müll in den Kanälen. Darauf stand „Klagen in Bezug auf die öffentliche Gesundheit für den Sestiere von Dorsoduro“. Jahrhunderte später ist dieser Kasten immer noch da – ebenso wie das Problem der Verschmutzung.

Verhängnisvolle Anklagen

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Venedig war nicht der einzige Ort, der diesen Weg einschlug. Während des Mittelalters und der Renaissance „hatten viele Städte und Länder Systeme für anonyme Klagen der einen oder anderen Art – das war Teil des Rechtssystems in ganz Europa“, erklärt Filippo de Vivo, Historiker und Autor von „Information and Communication in Venice: Rethinking Early Modern Politics“.

„Es war ein inquisitorisches Rechtssystem“, sagt er. „Eine Untersuchung ging von einer öffentlichen Anschuldigung aus, für die es oft Zeugen gab, oder eben von einer anonymen Anschuldigung.“

Venedigs Beschwerdeboxen waren deshalb so effektiv, weil laut Gesetz anonyme Denunziationen nur gegen öffentliche Beamte akzeptiert wurden, nicht gegen Privatpersonen. Die Löwenmäuler wurden genutzt, um „zur Anklage gegen Regierungsbeamte aufzufordern, die ihre Macht missbrauchten, zumindest theoretisch“, sagt de Vivo. Das half auch dabei, die Republik zu stärken, weil „die Meinungen der einfachen Venezianer ernst genommen wurden“, fügt er hinzu.

Zwar konnte jedermann zu jeder Tages- und Nachtzeit einen Zettel in die Boxen werfen, aber unterschriebene Zettel hatten Vorrang. Jeder wurde von der zuständigen staatlichen Stelle gelesen und bearbeitet. Unterschriebene und von Zeugen unterstützte Beschwerden wurden oft von einem der wichtigsten Leitungsgremien Venedigs geprüft, dem Rat der Zehn.

Es folgte eine umfangreiche Beweissammlung und Untersuchung, und die Konsequenzen konnten sowohl für den Angeklagten als auch für den Ankläger schrecklich sein, wenn sich herausstellte, dass einer von beiden log. Die schwersten Verbrechen wurden mit Inhaftierung in den berüchtigten Gefängnissen der Stadt, Verbannung oder sogar dem Tod bestraft. Das System hatte seine Fehler, und manchmal wurden unschuldige Menschen verurteilt.

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Aber während des gesamten 17. Jahrhunderts war Venedig für sein effektives, wenn auch strenges Rechtssystem bekannt. Und die Kästen – auch bocche che parlano (Münder, die sprechen) genannt – leisteten ihren Beitrag dazu. Caterina Vianello ist eine Venezianerin der siebten Generation und Dozentin für Theater und Oper an Universitäten in Venedig und Paris. Sie glaubt, dass „die Außergewöhnlichkeit Venedigs darauf zurückzuführen war, dass es keinen König, Fürsten, Diktator [...], keine Machtkonzentration gab.“

Die Beschwerdekästen verliehen jedem eine Stimme. Und indem man die Macht teilte, teilte man auch die Verantwortung. „Alle Bürger engagierten sich für eine gemeinsame Sache, nicht wie heute, wo der Fokus auf dem Einzelnen liegt“, sagt Vianello.

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Der Fall der Republik folgte einer politisch motivierten Reihe von Ereignissen, die durch die französischen Revolutionskriege angeheizt wurden. Schließlich drohte Napoleon Bonaparte 1797 damit, Venedig den Krieg zu erklären, wenn es sich nicht demokratisieren würde. Der venezianische Senat hatte keine andere Wahl als abzudanken und beendete damit 1.100 Jahre einer ruhigen und geordneten Republik.

Unter Napoleons Herrschaft besetzten die Franzosen Venedig und plünderten die Stadt, beschädigten Gebäude und Einrichtungen wie die Werft und zerstörten viele der bocche di leone.

Jahrzehnte später versetzte der amerikanische Schriftsteller und Humorist Mark Twain den Löwenmäulern einen weiteren Schlag, indem er auf ihren mitunter furchterregenden Ruf verwies. In seinem Reisebuch „The Innocents Abroad“ von 1869 schrieb er: „Am Kopf der Treppe der Giganten, wo Marino Faliero enthauptet wurde und wo in alten Zeiten die Dogen gekrönt wurden, wurde auf zwei kleine Schlitze in der Steinmauer verwiesen – zwei harmlose, unbedeutende Öffnungen, die niemals die Aufmerksamkeit eines Fremden erregen würden – und doch waren dies die schrecklichen Löwenmäuler! Die Köpfe waren weg (von den Franzosen während ihrer Besetzung Venedigs abgeschlagen), aber das waren die Kehlen, durch die die anonyme Anklage hinunterrann, die ein Feind heimlich mitten in der Nacht hineingeworfen hatte und die so manchen Unschuldigen dazu verdammte, über die Seufzerbrücke zu gehen und in den Kerker hinabzusteigen, den keiner betrat und hoffen konnte, die Sonne je wiederzusehen.“

Trotz seiner kritischen Sicht auf die bocche di leone wusste Twain die Spuren von Venedigs Vergangenheit als Stadtstaat von globaler Bedeutung zu schätzen. Ein bestimmter Moment auf seiner Reise schien ihn besonders ins Schwelgen gebracht zu haben, denn er schrieb: „Im Mondlicht werfen ihre vierzehn Jahrhunderte der Größe ihren Ruhm wie einen Schleier über sie, und noch einmal ist sie die Fürstlichste unter den Nationen der Erde.“

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Im heutigen Venedig, wo steigende Meere und Touristenfluten die Stadt zu überschwemmen drohen – und eine tödliche Pandemie Leben und Existenzen gefährdet –, wäre es verständlich, wenn die Einheimischen einen Anflug von Nostalgie für die alten Beschwerdekästen empfänden.

Vereinzelt findet man in der ganzen Stadt noch einige von ihnen, obgleich sie abgenutzt sind von der Zeit und den Wahrheiten, die sie einst verkündeten. Neben denen am Dogenpalast und an der Kirche Santa Maria della Visitazione sind weitere am Torcello Museum und an der Kirche San Martino zu finden. Nach der Pandemie können Besucher an einer geführten Tour teilnehmen oder sich auf eigene Faust auf die Suche nach den Löwenmäulern machen.

Die Ernennung Venedigs zum UNESCO-Weltkulturerbe im Jahr 1987 hat zu einem stärkeren Bewusstsein dafür beigetragen, dass die Architektur der Stadt erhalten werden muss – einschließlich der bocche di leone. Wenn sie wieder sprechen könnten, würden sie vielleicht darum bitten, dass man sich an die wichtige Rolle erinnert, die sie einst gespielt haben.

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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Author: Bryan Carpenter

Last Updated: 1703131442

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